Europäisches Institut für Stillen und Laktation

ABM-Protokoll Nr. 1 aktualisiert: Hypoglykämie beim reifen und Late Preterm Neugeborenen

Anlage zum EISL-Newsletter Mai 2021

ABM Clinical Protocol #1: Guidelines for Glucose Monitoring and Treatment of Hypoglycemia in Term and Late Preterm Neonates, Revised 2021
Nancy E. Wight, MD, IBCLC, FABM, FAAP; and the Academy of Breastfeeding Medicine. Breastfeeding Medicine, Volume 16, Number 5, 2021. DOI: 10.1089/bfm.2021.29178.new

Das Wichtigste in Kürze:

  • Schon geringe Mengen an Muttermilch stabilisieren den Blutzucker von Neugeborenen besser als Formulanahrung
  • Stillen oder von Hand gewonnenes Kolostrum sind daher Mittel der ersten Wahl für Risikokinder
  • Die präpartale Kolostrumgewinnung ist für Mütter mit Risikofaktoren sinnvoll, um bei Bedarf unmittelbar Kolostrum zur Verfügung zu haben

Die Academy of Breastfeeding Medicine (ABM) veröffentlicht eine Reihe an Protokollen, die als Handlungsempfehlungen den aktuellen Stand der Evidenzen zu einem bestimmten Thema zusammenfassen und international als vorbildlich gelten. Sie können Hilfestellung zur Erstellung von nationalen Leitlinien und lokalen Standards geben und werden regelmäßig aktualisiert.

Aktuell wurde das Protokoll Nr. 1 zur Hypoglykämie überarbeitet. Ziel ist es, eine vorübergehende neonatale von einer persistierenden pathologischen Hypoglykämie abzugrenzen, eine klinisch signifikante Hypoglykämie bei Neugeborenen zu verhindern sowie gefährdete Termin- und Late Preterm Neugeborene zu überwachen und gegebenenfalls zu behandeln. Dabei soll die Muttermilchernährung im Vordergrund stehen und eine Mutter-Kind-Trennung ebenso vermieden werden wie neurologische Folgeprobleme durch eine nicht adäquat behandelte Hypoglykämie. Aktuelle Studien der letzten Jahre wurden für die Überarbeitung des Protokolls einbezogen.

Der Begriff Hypoglykämie bezieht sich auf einen niedrigen Blutzucker und wird als relatives Ungleichgewicht zwischen der Zufuhr und Verwertung von Glukose angesehen. Häufig wird nicht berücksichtigt, dass es alternative Brennstoffe gibt, die für die metabolische Anpassung nach der Geburt im Vordergrund stehen. Vorübergehend niedrige BZ-Werte in den ersten 1-2 Stunden nach der Geburt sind daher üblich und treten bei fast allen Neugeborenen von Säugetieren auf. Bei gesunden, termingerechten Säuglingen ist eine vorübergehende neonatale Unterzuckerung, selbst wenn keine frühe Nahrungsaufnahme erfolgt, in der Regel selbstbegrenzend, asymptomatisch und wird als Teil der Anpassung an das postnatale Leben betrachtet (s. hierzu auch unser Artikel → Postpartale Anpassung des Stoffwechsels von Neugeborenen). Neugeborene mit einem erhöhten Risiko für unphysiologisch niedrige BZ-Werte sollten genauer beobachtet werden.

Bis heute gibt es keinen wesentlichen evidenzbasierten Fortschritt zur Definition einer klinisch bedeutsamen neonatalen Hypoglykämie, insbesondere in Bezug auf Hirnschäden, und die klinischen Zeichen einer Hypoglykämie sind unspezifisch.
Als Risikofaktoren werden sowohl mütterliche (z.B. Diabetes mellitus, Präeklampsie, Drogenabusus) als auch kindliche Faktoren gesehen - sie stimmen im ABM-Protokoll mit der deutschen AWMF-Leitlinie überein.
Auch im ABM-Protokoll wird bei Bedarf Glukosegel empfohlen, allerdings wird beschrieben, dass Glukosegel in Kombination mit Muttermilch gegeben werden sollte, bzw. Stillen als orale Behandlung der ersten Wahl zu betrachten ist, weil sich damit der Blutzucker am besten stabilisieren lässt und wiederholte Glukosegelgaben nicht notwendig sind. Die Autoren bestätigen, dass zur Stabilisierung geringere Mengen an Muttermilch als an Formulanahrung notwendig sind: (0,5 ml/kg Muttermilch versus 4,5 m/kg Formula).

Die allgemeinen Management-Empfehlungen des ABM-Protokolls lauten:
1. Frühes und ausschließliches Stillen erfüllt die Ernährungs- und Stoffwechselbedürfnisse von gesunden Neugeborenen.
2. Nach der anfänglichen Wachphase von ungefähr zwei Stunden haben einige Neugeborene eine Schlaf-/Ruhephase von 6 bis 8 Stunden. Neugeborene mit dem Risiko einer Hypoglykämie sollten auch während dieser Phase zum Stillen animiert werden oder von Hand gewonnene Muttermilch erhalten.
3. Haut-zu-Hautkontakt ist wichtig für die Temperaturregulation und senkt den Energieverbrauch des Neugeborenen.
4. Die routinemäßige Zufuhr von Wasser, Glukose oder Formula bei gesunden Neugeborenen ist unnötig und kann die normalen metabolischen Kompensationsmechanismen sowie die Etablierung des Stillens beeinträchtigen.
5. Ein Glukosescreening (BZ-Messung) sollte nur bei Risiko-Neugeborenen und solchen mit klinischem Verdacht durchgeführt werden.
6. Bleibt die Hypoglykämie länger bestehen, sind unbedingt weitere diagnostische Schritte notwendig.
7. Neugeborene mit geringem Gestationsalter oder mit klinischem Verdacht auf eine Hypoglykämie sowie diejenigen mit einer intrauterinen Wachstumsretardierung sollten 24 Stunden lang überwacht werden.

Wenn eine dokumentierte Hypoglykämie vorliegt, empfiehlt das ABM-Protokoll ein Vorgehen, das in etwa der deutschen AWMF-Leitlinie entspricht (s. hierzu auch unsere Fachseite zum Thema: → Hypoglykämie beim Neugeborenen).

Für Mütter mit erhöhtem Risiko wird ausdrücklich eine präpartale Kolostrumgewinnung empfohlen, außerdem sollen diese Mutter-Kind-Paare besonders zum Stillen unterstützt werden, insbesondere wenn beim Kind eine Therapie in den ersten Stunden notwendig wird.

Weitere Studien sind wünschenswert, z.B. auch zum Vergleich der Vorgehensweisen zwischen BFHI-zertifizierten und nicht zertifizierten Kliniken, ebenso um ein noch besseres Verständnis der postpartalen Anpassung des Neugeborenen zu erreichen und zur genaueren Bestimmung der notwendigen Menge des Glucosegels, um unnötige Therapien zu vermeiden.

Das vollständige ABM-Protokoll (englisch) finden Sie → hier.

© Mai 2021, Gudrun von der Ohe (Ärztin und IBCLC)
und das EISL-Newsletter-Team: Anja Bier, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC

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