Europäisches Institut für Stillen und Laktation

ABM-Protokoll Nr. 21 aktualisiert: Stillen bei Suchterkrankungen

Anlage zum EISL-Newsletter November 2023

ABM Clinical Protocol #21: Breastfeeding in the Setting of Substance Use and Substance Use Disorder
Miriam Harris, Davida M. Schiff, Kelley Saia, Serra Muftu, Katherine R. Standish, Elisha M. Wachman, Oct. 2023. DOI: https://doi.org/10.1089/bfm.2023.29256.abm

Das wichtigste in Kürze:

  • Weltweit hat der Konsum von legalen und illegalen Drogen zugenommen, wobei Alkohol-, Opioid- und Cannabiskonsumstörungen bei Frauen die höchsten Raten aufweisen.
  • Die Entscheidung über das Stillen ist für alle Mütter ein wichtiger Aspekt der Peripartalzeit. Mutter-Kind-Dyaden, bei denen ein Substanzmissbrauch vorliegt, sind in einer heiklen Situation. Hier gilt es Vorteile und Risiken gegeneinander abzuwägen.
  • Zur Einschätzung wird unter anderem die relative kindliche Dosis (RID: relative infant dose) herangezogen. Substanzen mit RID-Werten <10% gelten im Allgemeinen als sicher und Substanzen mit RID-Werten von >25% sollten bei stillenden Müttern vermieden werden.
  • Suchterkrankungen gehen häufig mit erlebten Traumata, psychischen Erkrankungen, sowie prekären sozialen Verhältnissen einher. Eine umfassende pränatale und suchtmedizinische Versorgung bei Schwangeren mit Substanzmissbrauch ist wichtig, um den Substanzkonsum bis zur Geburt zu stabilisieren.

Ein zentrales Ziel der Academy of Breastfeeding Medicine (ABM) ist die Entwicklung von klinischen Protokollen, die als Richtlinie zu medizinischen Themen im Kontext mit stillenden Frauen und Säuglingen dienen. Vor kurzem wurde das Protokoll #21 aktualisiert.

Frühere ABM-Leitlinien empfahlen, dass Frauen, die binnen 30 - 90 Tagen vor der Entbindung nicht verschreibungspflichtige Substanzen konsumiert hatten, vom Stillen abgeraten werden sollte. Eine retrospektive Kohortenstudie mit 503 Frauen, die wegen Opioidkonsums behandelt wurden, ergab, dass positive Urin-Drogentests bei der Entbindung den stärksten Zusammenhang mit dem fortgesetzten Konsum nach der Geburt aufwiesen. Wurde der Drogentest bereits im dritten Trimester durchgeführt, so konnte nur zu einem geringen Teil vorausgesagt werden, ob die Mütter weiterhin Substanzen einnahmen.

In Anbetracht dieser Ergebnisse und der Tatsache, dass die meisten Substanzen innerhalb von Stunden bis Tagen und nicht innerhalb von Tagen bis Wochen abgebaut werden, können Frauen, die den Konsum nicht verschreibungspflichtiger Substanzen vor oder während des Klinikaufenthalts bei der Entbindung beenden, beim Beginn des Stillens unterstützt werden.
Eine Entscheidung für oder gegen das Stillen muss sorgfältig abgewogen werden: Beispielsweise spielt das Stillen eine wichtige Rolle beim neonatalem Opioid-Entzugssyndrom (NOWS), indem pharmakologische Behandlungen und die Dauer des Klinikaufenthalts reduziert werden. Ebenso wird durch das Stillen der so wichtige Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind gefördert und Stress insgesamt reduziert.
Als Risiken hingegen werden eine verringerte Reaktion auf Stillzeichen, die Aufnahme von Substanzen über die Muttermilch und die daraus resultierende Schädigung des Säuglings, insbesondere Veränderungen bei der Gehirnentwicklung, beschrieben.

Mütter, die zum Stillen motiviert sind und über einen kürzlichen nicht verschreibungspflichtigen Substanzkonsum berichten und/oder bei der Entbindung einen positiven toxikologischen Test haben, sollten zunächst beim Abpumpen von Milch und dem Aufbau der Milchproduktion unterstützt werden. Die Entscheidung, ab wann mit dem Stillen begonnen werden bzw. die abgepumpte Milch gefüttert werden kann, sollte in einem multidisziplinären Ansatz getroffen werden.
Wenn eine stillende Frau nach der Geburt wieder zu einem nicht verschriebenen Substanzkonsum zurückkehrt, sollte sie zunächst darin unterstützt werden, ihre Milch abzupumpen und zu verwerfen, bis weitere Entscheidungen über das Stillen getroffen werden können.

Zur Einschätzung des Risikos für das Kind wird unter anderem die relative kindliche Dosis (RID: relative infant dose) herangezogen. Die RID hängt von mehreren Faktoren ab: Menge und Pharmakologie der Substanz, Übergang in die Muttermilch, Magenresorption und Metabolismus des Säuglings und die Schwangerschaftswoche, in der das Kind geboren wurde bzw. das Alter des Kindes. Substanzen mit RID-Werten <10% gelten im Allgemeinen als sicher und Substanzen mit RID-Werten von >25% sollten bei stillenden Müttern vermieden werden.

Opioide
Es gibt zwar eine gewisse Menge an Daten über die Pharmakokinetik in der Muttermilch von verschriebenen Opioiden (Morphin, Codein, Oxycodon und Tramadol), doch nur wenig über den nicht verschriebenen Gebrauch, insbesondere über synthetische Opioide wie Fentanyl, die in Teilen Nordamerikas bis zu 90 % des illegalen Opioidangebots ausmachen. Trotzdem werden im AMB-Protokoll die vorhandenen Daten zur Nutzen-Risiko-Bewertung herangezogen.
Findet die Einnahme verschriebener Opioide nur über einen kurzen Zeitraum statt (3 - 5 Tage), so liegt die RID meist im Bereich von 1-5% und ist in der Regel gut mit dem Stillen vereinbar. Zu beachten ist jedoch die Tagesdosis. Ist diese erhöht, können auch bei kurzfristigem Gebrauch Symptome bei Mutter und Kind auftreten. Bei einer längerfristigen Einnahme (> 5 Tage) erhöhen sich die Risiken: verminderte Fähigkeit der Mutter die Signale des Säuglings richtig zu interpretieren und auf diese entsprechend einzugehen, Sedierung der Mutter und des Kindes, Atemdepression, Entzugssymptome und ein erhöhtes Verletzungsrisiko, wenn Mutter und Kind gemeinsam im Bett schlafen.
Obwohl Opioide theoretisch den Prolaktinspiegel erhöhen, so kann es aufgrund von schlechtem Stillmanagement zu einer verzögerten Laktation kommen.

Hypnotika (Benzodiazepine, Z-Substanzen, Gabapentin und Phenobarbital)
Auch bei den Hypnotika (auch Sedativa genannt) gibt es kaum aussagekräftige Daten. Benzodiazepine scheinen mehr Nebenwirkungen als die neueren Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon) aufzuweisen. Die Risiken sind ähnlich wie bei den Opioiden. Bei der Mutter geht es in erster Linie um die Sedierung und die verringerte Fähigkeit adäquat auf den Säugling zu reagieren. Bei den Kindern gehören Atemdepression, Tremor, schlechte Gewichtszunahme und ebenfalls Sedierung zu den zu erwartenden Problemen.

Stimulanzien (Kokain, Methamphetamin, Amphetamin, Methyl-Enedioxy-Methamphetamin)
Während die Raten des Kokainkonsums in der Schwangerschaft in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen sind, hat sich der Amphetaminkonsum bei den Entbindungen verdoppelt. Auch über die Pharmakokinetik von Kokain und Methamphetamin in der Muttermilch gibt es nur wenige Daten. Tier- und Labordaten deuten darauf hin, dass das niedrige Molekulargewicht, die Fettlöslichkeit und die hohe Bioverfügbarkeit dieser Substanzen zu einer hohen RID beitragen können. Während es bei den Müttern durch die verminderte Prolaktinausschüttung als Nebenwirkung meist nur zu einer geringen Milchmenge kommt, so sind Säuglinge einem hohen Risiko ausgesetzt, Durchfall, Erbrechen, Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, Tachykardie, Tachypnoe, Bluthochdruck, Unterkühlung, Reizbarkeit, Zittern, Schlafstörungen, Krampfanfälle und sogar Tod zu erleiden.

Alkohol
Weltweit ist Alkohol die am häufigsten missbräuchlich konsumierte Substanz unter Frauen. Eine kürzlich durchgeführte europäische Studie mit über 7.000 Personen aus 11 Ländern ergab, dass 16 % der Frauen während der Schwangerschaft Alkohol tranken. Gelegentlicher Alkoholkonsum in der Stillzeit ist nach wie vor üblich und wird von 50 - 82 % der Stillenden berichtet.
Pharmakokinetische Studien zeigen, dass Alkohol mit einer RID von 16 % leicht in die Muttermilch übergeht. Darüber hinaus wird die Produktion der Hormone Oxytocin und Prolaktin gehemmt und es kommt zu einer verringerten Milchbildung. Bei den Kindern wurde Schläfrigkeit, verändertes Schlaf- und Fütterungsverhalten des Säuglings um die Zeit des Alkoholkonsums, typischerweise bei mütterlichen Blutspiegeln von >300 mg/dL beobachtet. Hinsichtlich der Langzeiteffekte gibt es widersprüchliche Berichte über die kognitiven Funktionen von Kindern, wobei prospektive Kohortenstudien entweder keine Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung oder eine dosisabhängige Verringerung kognitiver Fähigkeiten im Alter von 6 - 7 Jahren feststellen konnten, die allerdings im Alter von 10 - 11 Jahren nicht mehr messbar waren.
Gelegentlicher geringer Alkoholkonsum gilt weiterhin als vertretbar, insbesondere wenn nach dem Konsum ca. 2 Stunden Stillpause bis zum nächsten Anlegen eingehalten werden.

Rauchen
Nikotin hat eine lange Halbwertszeit und ist noch 5 - 10 Stunden nach dem Rauchen einer Zigarette in der Muttermilch nachweisbar. Bei den Säuglingen kann es zu Nebenwirkungen wie reduziertem Appetit, Tachykardie und beeinträchtigtem Schlaf kommen. Auch sekundär exponierte Babys haben ein höheres Risiko für Hals-, Nasen- und Ohrinfekte und Infekte der oberen Atemwege, sowie ein höheres Risiko für Allergien und für plötzlichen Kindstod. Das Stillen bietet viele Vorteile für die Gesundheit von Säuglingen, gerade auch für die gefährdete Gruppe der "mit-rauchenden Kindern". Somit gilt weiterhin die Empfehlung: auch bei rauchende Müttern ist das Stillen der Ernährung mit Formula vorzuziehen.

Cannabis
Die Zunehmende Legalisierung und leichtere Verfügbarkeit macht auch vor Schwangeren und Stillenden Frauen nicht Halt. Es gibt viele Unsicherheiten hinsichtlich der Auswirkungen von Cannabis auf die Schwangerschaft und das Stillen. Es scheint, dass der Cannabiskonsum bei Müttern möglicherweise mit einer verkürzten Stilldauer in Verbindung gebracht wird, aber es ist unklar, ob diese Verbindung direkt auf den Cannabiskonsum oder auf andere soziostrukturelle Faktoren zurückzuführen ist.
Cannabis kann die Zusammensetzung der Muttermilch beeinflussen, indem es Immunglobuline verringert und den Laktosespiegel erhöht. Jedoch gibt es nur begrenzte Daten über die akuten oder langfristigen Auswirkungen der Cannabisexposition über die Muttermilch auf Säuglinge. Die vorhandenen Studien liefern widersprüchliche Ergebnisse zur motorischen Entwicklung der Säuglinge.
Aufgrund dieser Unsicherheiten und der begrenzten Datenlage ist eine individuelle Beurteilung und Vorsicht geboten, wenn es um den Gebrauch von Cannabis während der Schwangerschaft und Stillzeit geht. Es ist ratsam, während dieser sensiblen Phasen auf den Cannabiskonsum zu verzichten, um potenzielle Risiken für die Gesundheit von Mutter und Kind zu minimieren. Es bedarf weiterer Forschung, um klarere Erkenntnisse über die spezifischen Auswirkungen von Cannabiskonsum auf Schwangerschaft, Stillzeit und die Gesundheit des Säuglings zu erlangen.

Behandlung von Opioidabhängigkeit
Die Verwendung von Methadon, einem vollständigen Opioidagonisten, ist gut untersucht. Aufgrund der bekannten Vorteile für die Eltern und der möglichen Verringerung des neonatalen Entzugsyndroms (NOWS: neonatal opioid withdrawal syndrome ) bei opioidexponierten Säuglingen wird die Fortsetzung der Methadontherapie während der Stillzeit dringend empfohlen. Das Stillen kann, unabhängig von der Methadondosis, sofern von der Mutter gewünscht, unterstützt und gefördert werden. Wenn die Methadonsubstitution nach der Geburt erstmals etabliert wird und bei hohen Dosen (über 100mg) wird empfohlen, Säuglinge auf Sedierung und Atemdepression hin zu überwachen. Es ist wichtig, dass die betreuenden medizinischen Fachkräfte die Mutter umfassend beraten und alle verfügbaren Informationen über mögliche Risiken und Vorteile des Stillens unter Methadontherapie bereitstellen. Letztendlich sollte die Entscheidung im besten Interesse von Mutter und Kind getroffen werden und auf einer individuellen Bewertung basieren.

Behandlung von Alkoholabhängigkeit
Die drei am häufigsten gebrauchten Medikamente, um Alkoholabhängigkeit zu behandeln sind: Acamprostat, Naltrexon und Disulfiram. Leider gibt es auch hier nicht genügend Daten, um klare Empfehlungen für das Stillen abzugeben. Bei Personen mit Alkoholabhängigkeit wird Acamprosat jedoch häufig aufgrund seiner Pharmakokinetik und nachgewiesenen Vorteile als sicherer angesehen als Disulfiram. Dennoch ist es wichtig, dass die Entscheidung, während des Stillens Medikamente wie diese einzunehmen, immer in Absprache mit einem medizinischem Fachpersonal getroffen wird. Dies ermöglicht eine individuelle Bewertung der potenziellen Risiken und Vorteile für die Mutter und das gestillte Kind auf der Grundlage der verfügbaren Informationen und der spezifischen Umstände der Mutter.

Raucherentwöhnung
Nikotinersatzprodukte sind am besten untersucht und die Vorteile überwiegen die Risiken des anhaltenden Zigarettenkonsums. Allerdings kommt es auch hier zum Übertritt von Nikotin in die Muttermilch und kann mit entsprechenden Nebenwirkungen verbunden sein. Die als Kaugummi, Lutschtabletten, Nasenspray, Mundinhalator oder Pflaster verfügbaren Präparate gibt es als kurz- und langwirksame Form. Welche Maßnahmen während der Stillzeit angewendet werden sollten und welche Art von Nikotin-Ersatztherapie angewendet werden sollte, richten sich nach den klinischen Bedürfnissen der stillenden Mutter.
Vareniclin, ein partieller Nikotinagonist, ist zur Raucherentwöhnung am wirksamsten, es stehen jedoch keine Sicherheitsdaten zur Verwendung während der Stillzeit zur Verfügung. Im Tierversuch kam es zu Schädigungen der Lunge. Die Proteinbindung und lange Halbwertszeit legen nahe, dass Vareniclin leicht in die Muttermilch übergeht. Die Entscheidung für den Einsatz sollte daher aufgrund der Schwere des Tabakkonsums abgewogen werden.

Generelle Empfehlungen

Multidisziplinäre Betreuung: Eine multidisziplinäre prä- und postnatale Betreuung ist entscheidend. Dies bedeutet, dass die Betreuung von Fachleuten verschiedener Disziplinen erfolgen sollte. Diese Teams können umfassende Unterstützung und Behandlung für Frauen mit Substanzmissbrauch sowie für die Gesundheit des Kindes bieten.

Zeitpunkt des Stillbeginns: Für Frauen, die den Konsum nicht verschriebener Substanzen bis zur Entbindung einstellen, kann der Krankenhausaufenthalt bei der Initiierung des Stillens unterstützen. Es ist wichtig, Frauen während dieses Zeitpunkts zu unterstützen und aufklärende Maßnahmen sowie praktische Anleitung zur Verfügung zu stellen, um das Stillen zu fördern.

Perinatale Stillunterstützung: Eine gezielte perinatale Stillunterstützung, einschließlich vorgeburtlicher Aufklärung, stationärer und postpartaler Stillunterstützung sowie einer fortlaufenden multidisziplinären Behandlung, kann dazu beitragen, das Stillen fortzusetzen. Dieser Ansatz unterstützt die Mutter-Kind-Dyade und bietet spezifische Hilfestellungen für das Stillen in Kombination mit der Behandlung der Substanzgebrauchsstörung.

Die Entwicklung einheitlicher Stillrichtlinien kann dazu beitragen, Vorurteile zu reduzieren und sicherzustellen, dass das betreuende Personal gleiche Standards und Empfehlungen für das Stillen bei Frauen mit Substanzgebrauch haben. Es ist wichtig, dass diese Frauen Unterstützung und Beratung erhalten, die auf evidenzbasierten, gleichberechtigten und nicht urteilsbehafteten Ansätzen basieren.

Das aktualisierte ABM-Protokoll Nr. 21 (derzeit nur auf englisch verfügbar) finden Sie vollständig → hier.

© November 2023, Natalie Groiss, IBCLC
und das EISL-Newsletter-Team:
Anja Bier, IBCLC; Rhiannon Grill, IBCLC; Simone Lehwald, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC;
Gudrun von der Ohe, IBCLC

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