Die Bedeutung des direkten Hautkontakts für ALLE Neugeborenen
Anlage zum Newsletter Dezember 2019
Direkter Hautkontakt: ein Menschenrecht!
Mehrere aktuelle Studien zeigen, dass direkter Hautkontakt für Babys, für Mütter, für Väter und auch für Frühgeborene deutliche kurz- und langfristige Auswirkungen haben.
Skin‐to‐skin contact the first hour after birth, underlying implications and clinical practice.
Widström, A.‐M., Brimdyr, K., Svensson, K., Cadwell, K. and Nissen, E. (2019). Acta Paediatr, 108: 1192-1204. DOI: 10.1111/apa.14754
Der direkte Hautkontakt nach der Geburt setzt auf einfache und faszinierende Weise eine Reihe von physiologischen Abläufen in Gang, welche Mutter und Kind beim Bonding und der Initiierung des Stillens unterstützen.
Aufbauend auf Forschungen der Neunziger Jahre, in denen bereits die Fähigkeit des Babys zum Self-Attachment erkannt wurde, beschrieb die schwedische Hebamme Ann-Marie Widström 2010 gemeinsam mit KollegInnen erstmalig dieses Geschehen in 9 Stadien nach der Geburt. In den darauffolgenden Jahren wurden das Self-Attachment durch weitere Forschung noch genauer beschrieben und die Bedeutung des möglichst ungestörten Ablaufes immer deutlicher.
Anfang des Jahres publizierten Widström et al. nun eine kompakte Zusammenfassung, die nicht nur die wesentlichen Vorteile für Mutter und Kind auf den Punkt bringt, sondern darüber hinaus versucht, die Implementierung des Wissens um den Ablauf der 9 Stadien auch mit praktischen Empfehlungen in den klinischen Alltag zu erleichtern. Der Artikel ist vollständig und kostenfrei → hier erhältlich.
Die Aufforderung ist klar: Direkter ununterbrochener Hautkontakt für Mutter und das gesunde reife Neugeborene nach komplikationsloser spontaner Geburt für mindestens eine Stunde (besser länger) sollte an allen Kliniken Standard sein.
Doch wie sieht es mit risikobehafteten Geburtsverläufen aus? Immer mehr wird deutlich, dass trotz besonderer Umstände auch bei vulnerablen Neugeborenen und bei Sectio-Geburt ein direkter Hautkontakt möglich und wünschenswert ist.
Effects of Skin-to-Skin Care During Cesareans: A Quasiexperimental Feasibility/Pilot Study
Jeannette T. Crenshaw, Ellise D. Adams, Richard E. Gilder, Kristine DeButy, and Kristin L. Scheffer. Breastfeeding Medicine 2019 14:10, 731-743. DOI: https://doi.org/10.1089/bfm.2019.0202
Crenshaw et al. berichten von ihren Erfahrungen einer durchgeführten Pilotstudie, die besonders langen Hautkontakt über 5 Stunden im Anschluss an eine Sectio beinhaltete. Trotz der eher kleinen Gruppen geht deutlich hervor, dass bei unkomplizierten Sectio Verläufen, direkter Hautkontakt eine einfache, kostengünstige und sichere Maßnahme ist, die bereits während der Operation begonnen und darüber hinaus fortgeführt werden kann.
Konkret wurden zwei Zeitpunkte verglichen, an dem der Hautkontakt startete. In der ersten Gruppe wurden die Kinder gleich nach dem Entwickeln für ca. 5 Stunden in direkten Hautkontakt mit ihrer Mutter gebracht, in der zweiten Gruppe erst nach dem Umbetten vom OP-Tisch in das Krankenbett und für rund 2 Stunden.
Bei den Neugeborenen kam es zu keinen signifikanten Unterschieden, in beiden Gruppen zeigten sich gleichermaßen positive Effekte, was sicher auch der Tatsache geschuldet ist, dass beide Gruppen ausgedehnten Hautkontakt anwendeten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß (2 Std. vs. 5 Std.). Bei den Müttern hingegen waren deutliche Abweichungen messbar. Früheres und längeres Bonding führte zu einem besseren subjektiven Erleben der Sectio und zu messbar niedrigeren Cortisol-Werten.
Die Autoren geben zu bedenken, dass weltweit ein Steigen der Sectio-Raten zu verzeichnen ist und damit auch das Risiko einer Trennung mit daraus resultieren negativen Folgen ansteigt. Zum frühesten möglichen Zeitpunkt durchgeführtes Bonding bei Sectio wirkt effektiv entgegen, indem es zu einer messbar geringeren Stressbelastung und zu höherer Zufriedenheit bei den Müttern führt.
Die Studie ist vollständig und kostenfrei → hier nachzulesen.
Effects of Paternal Skin-to-Skin Contact in Newborns and Fathers After Cesarean Delivery
Huang, Xiaoli BS; Chen, Liling BS; Zhang, Li BS. The Journal of Perinatal & Neonatal Nursing: January/March 2019 - Volume 33 - Issue 1 - p 68–73. DOI: 10.1097/JPN.0000000000000384
Kann das Bonding nicht bei der Mutter durchgeführt werden, so sollte das Kind mit der nächsten engen Bezugsperson in direkten Hautkontakt gebracht werden, in den meisten Fällen handelt es sich hierbei um den Vater des Neugeborenen. Huang X et al. publizierten Anfang des Jahres eine Studie, bei der die Unterschiede zwischen Bonding beim Vater und Routineversorgung verglichen wurden.
Bei den Vätern kam es zu ähnlich positiven Effekten wie bei den Müttern in der zuvor genannten Studie. Die Männer waren weniger ängstlich, fanden sich schneller in ihrer Rolle als Vater zurecht und neigten weniger zu Depressionen. Bei den Neugeborenen konnten ebenfalls deutliche Unterschiede verzeichnet werden, so waren etwa die Herzfrequenz und Temperatur stabiler, Weinphasen kürzer und das Stillen begann deutlich früher als in der Kontrollgruppe. Das Abstract zur Studie können Sie → hier nachlesen.
Doch nicht nur bei Sectio-Entbindungen setzt sich mittlerweile in vielen Häusern die Erkenntnis durch, dass auch hier ein direkter Hautkontakt möglich und wichtig ist: auch Frühgeborene sollten diese Chance erhalten.
Delivery room skin‐to‐skin contact for preterm infants—A randomized clinical trial.
Mehler, K, Hucklenbruch‐Rother, E, Trautmann‐Villalba, P, Becker, I, Roth, B, Kribs, A. Acta Paediatr. 2019; 00: 1– 9. DOI: https://doi.org/10.1111/apa.14975
Das Team rund um Katrin Mehler und Angela Kribs (Universtitätsklinik Köln) verglich in einer aktuellen Studie die Auswirkungen zwischen 60 Minuten andauerndem Hautkontakt und 5 Minuten Sichtkontakt bei frühgeborenen Kindern und ihren Müttern. Direkter Kontakt führte mit 6 Monaten zu einer besseren Mutter-Kind Interaktion und im frühen Wochenbett zu einer verringerten mütterlichen Depressionsrate.
Die Studie ist → hier vollständig verfügbar. Zusätzlich empfehlen wir Ihnen zum Nachlesen ergänzend → diesen Artikel, der sich näher mit der Studie befasst. Außerdem ist bereits Anfang des Jahres ein deutscher → Übersichtsartikel von den Autorinnen in der Monatszeitschrift Kinderheilkunde veröffentlicht worden, der den aktuellen Stand des Wissens zum Bonding bei Frühgeborenen zusammenfasst.
Nicht nur der Hautkontakt unmittelbar nach der Geburt ist wertvoll, auch jede weitere Stunde des direkten Hautkontakts zwischen Mutter/Eltern und Kind (auch als Kangoroo-Mother-Care/ KMC bekannt), führt zur Verbesserung der physiologischen Parameter beim Kind, zur Verbesserung der Bindung und des emotionalen Erlebens der Eltern und zur Förderung des Stillens. Alle diese Effekte sind bereits seit Jahren ausführlich beschrieben und werden auch weiterhin erforscht.
The Effect of Short Duration Skin to Skin Contact on Premature Infants' Physiological and Behavioral Outcomes: A Quasi-Experimental Study
Shattnawi, Khulood Kayed et al. Journal of Pediatric Nursing: Nursing Care of Children and Families, Volume 46, e24 - e28. DOI: https://doi.org/10.1016/j.pedn.2019.02.005
In einer aktuellen Studie von Shattnawi et al konnte gezeigt werden, dass bereits eine Stunde täglicher Hautkontakt in den ersten fünf Lebenstagen bei der untersuchten Gruppe an Frühgeborenen zu einer höheren Gewichtszunahme, selteneren Apnöen, geringerem Einsatz von Formula, kürzeren Weinphasen und stabileren Schlafmustern führte. Das Abstract zur Studie finden Sie → hier.
Safety and feasibility of skin-to-skin care for surgical infants: A quality improvement project
Kelley-Quon, Lorraine I. et al. Journal of Pediatric Surgery, Volume 54, Issue 11, 2428 - 2434. DOI: https://doi.org/10.1016/j.jpedsurg.2019.02.016
Damit frühzeitiger und anhaltender Hautkontakt auch in besonders herausfordernden Situationen erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht es die interdisziplinäre Zusammenarbeit: Bedenken müssen ausgeräumt und Risiken klar bewertet werden.
In einer aktuellen Studie berichteten Kelley-Quon et al. von der Implementierung des regelmäßigen Hautkontaktes bei operationspflichtigen Säuglingen, die auf der Neonatologie aufgenommen wurden. Anfangs fühlten sich nur 44% des Personals "wohl oder sehr wohl" mit diesem Vorgehen, diese Zahl stiegt nach einem Jahr auf 75% an. Die Zahl der Pflegenden, die den Hautkontakt aktiv in ihre Pflege integrierten, stieg von 12% auf 37%. Entgegen der Befürchtungen stieg die Zahl der Komplikationen, wie z.B. die versehentliche Extubierung, nicht an. Das Abstract zu dieser Studie finden Sie → hier.
ANMERKUNGEN DES EUROPÄISCHEN INSTITUTS FÜR STILLEN UND LAKTATION:
Kranke und frühgeborene Kinder profitieren ganz besonders von der Ernährung mit Muttermilch und einer stabilen Bindung zu ihren Eltern. Wir begrüßen daher alle Anstrengungen und Initiativen, direkten Haut-zu-Haut-Kontakt auch für Risikogruppen zu ermöglichen.
Es sollte uns stets bewusst sein, dass Hautkontakt nach der Geburt nicht nur das Privileg einer bestimmten Gruppe sein darf – ohne Ausnahme benötigt dies jedes neugeborene Kind.
Daher ist es wichtig, flächendeckende Strukturen zu schaffen, damit direkter Hautkontakt nach der Geburt und im weiteren Verlauf als normativer Standard für alle Geburtskliniken und Neonatologien umgesetzt werden kann.
© Dezember 2019, Natalie Groiss (IBCLC) und Anja Bier (IBCLC) für den Newsletter des Europäischen Instituts für Stillen und Laktation