Empfehlung zum aussschließlichen Stillen für 6 Monate überprüft
Anlage zum Newsletter Juli 2019
Perspective: Should Exclusive Breastfeeding Still Be Recommended for 6 Months?
Rafael Pérez-Escamilla, Gabriela S Buccini, Sofia Segura-Pérez, Ellen Piwoz. Advances in Nutrition, nmz039. DOI: https://doi.org/10.1093/advances/nmz039
Immer wieder stellt sich die Frage, wie lange ausschließliches Stillen empfohlen werden soll oder ab wann die Muttermilch alleine nicht mehr zur vollständigen Ernährung des Kindes ausreicht. Einige Informationen zum Thema Beikosteinführung, können verwirrend sein: beispielsweise hören wir Empfehlungen "ab dem fünften Monat" oder "nach dem vierten Monat", was dasselbe bedeutet, jedoch zu Missverständnissen führen kann.
Die WHO-Empfehlungen, die weitherin ganz klar lauten, 6 Monate ausschließlich zu stillen, werden regelmäßig öffentlich angezweifelt, insbesondere in Bezug auf möglichen Eisenmangel bei Stillkindern oder weil man hofft, Allergien durch eine frühere Beikosteinführung vermeiden zu können. Einige Kritiker behaupten auch, dass das ausschließliche Stillen für 6 Monate einen Wachstums- oder Entwicklungsnachteil für Stillkinder mit sich bringt, manche beschränken diese Vermutung auf besonders klein geborene Säuglinge oder auf Regionen, in denen sich Mütter nicht adäquat ernähren können.
Eine Forschungsgruppe hat daraufhin jüngst die Evidenzen zu obigen Fragen mit umfassenden Reviews erneut geprüft und kommt zum Ergebnis, dass die aktuelle Empfehlung der WHO auch weiterhin durch die Wissenschaft untermauert wird. In der Fachzeitschrift Advances in Nutrition (Mai 2019) wird deutlich, dass es keine günstigere Gewichtszunahme und keinen linearen Wachstumsvorteil bei der frühen Einführung von Beikost im Alter von 4 Monaten statt im Alter von 6 Monaten gibt. Kinder, die erst mit 6 Monaten zugefüttert wurden, hatten hingegen ein geringeres Risiko an Magen-Darm-Infektionen zu erkranken. Auch in einer weiteren Studie, die ausschließlich mit LBW-Kindern durchgeführt wurde, stellte sich kein Wachstumsvorteil bei einer frühen Zufütterung mit 4 Monaten gegenüber einem Beikoststart mit 6 Monaten heraus. Hier zeigen die Ergebnisse sogar, dass Kinder mit Beikoststart ab dem 6. Monat früher krabbelten als die Kinder mit vorzeitiger Zufütterung.
Eisen
Obwohl Muttermilch besonders gut verwertbares Eisen enthält, kann es für bestimmte Untergruppen von Säuglingen tatsächlich zu einer Eisenmangelanämie kommen, wenn diese länger ausschließlich gestillt werden. Dies gilt beispielsweise für Säuglinge, deren Mutter während der Schwangerschaft unter Eisenmangel litt, die ein geringes Geburtsgewicht hatten oder zu früh geboren wurden. Gleichzeitig ist eine frühere Einführung der Beikost mit Risiken verbunden, die keine einfache Antwort in Bezug auf allgemeingültige Empfehlungen des Gesundheitssystems ermöglichen.
Die sinnvollste und gleichzeitig sehr einfache und wirksame Intervention, die durch eine angemessene Schulung des Gesundheitspersonals leicht umgesetzt werden kann: entgegen der momentanen Praxis sollte das Neugeborene möglichst spät abgenabelt werden, was zu einer deutlichen Erhöhung seines Eisenspeichers führt. Für Frühgeborene und LBW-Kinder besteht die Empfehlung, ab dem 2.-3. Lebensmonat mit Hilfe von Eisentropfen eine Supplementierung durchzuführen, wodurch keine frühere Einführung der Beikost notwendig wird.
Allgemeine Nährstoffversorgung/ Milchmenge
In der Selbstwahrnehmung von Frauen weltweit ist die Sorge um „zu wenig Milch“ die Hauptursache für eine frühe Zufütterung von Formula sowie der Einführung von Beikost. Es gibt verschiedene Faktoren, die zu dieser Wahrnehmung führen könnten: vielen Frauen und auch vielen Fachkräften ist die normale Entwicklung der Laktation nicht bekannt und es besteht keine Kenntnis über ein sinnvolles Still-Management. Mehrere Evidenzen zeigen, dass fehlende gute Begleitung durch angemessen geschultes Personal, ein soziales Umfeld, das das Stillen wenig unterstützt, sowie fehlendes Wissen über das Stillen und ein sinnvolles Stillmanagement Risikofaktoren darstellen. Die häufigste Ursache für „zu wenig Milch“ ist daher in diesen Faktoren zu suchen und wird weitaus seltener an tatsächlichen biologischen Schwierigkeiten der Milchbildung liegen.
Eine frühere Beikosteinführung ist also auch für diese Fragestellung keine Antwort. Sollte die Mutter unterernährt sein, können die Mengen einiger Mikronährstoffe in der Muttermilch variieren, was jedoch in der Risikoabwägung gegenüber anderen Faktoren zu vernachlässigen ist.
Gerade in Ländern, in denen Infektionskrankheiten und Unterernährung häufig auftreten, schützt ausschließliches Stillen vor Säuglingsmorbidität/-sterblichkeit und wird daher dringend empfohlen.
Allergien
Allergien nehmen weltweit zu, was dieses Thema stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt. Einige Studien der letzten 20 Jahre ergaben Hinweise darauf, dass stark allergiegefährdete Kinder davon profitieren, schon zu einem frühen Zeitpunkt (4. – 6. Lebensmonat) mit kleinen Mengen an typischen hochallergenen Substanzen (z.B. Hühnerei und Erdnüssen) in Kontakt zu kommen. Jüngere Studien haben diese Ergebnisse wieder in Zweifel gezogen und zeigen teilweise die besten Ergebnisse, wenn die Kinder erst im zweiten Lebenshalbjahr mit den Substanzen erstmalig konfrontiert werden. Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft und Stillzeit, sowie ihr individuelles Profil an Oligosacchariden in der Muttermilch einen Einfluss auf die Allergieneigung des Kindes haben könnte.
Einig ist sich die Forschung dahingehend, dass eine Verzögerung der Einführung typischer hochallergener Substanzen auf die Zeit nach dem 1. Geburtstag keine Vorteile, sondern eher Nachteile für die Allergieprävention mit sich bringt. Ob eine Einführung jedoch eher vor oder nach dem 6. Monat sinnvoll ist, ist nicht abschließend geklärt. Insbesondere muss berücksichtigt werden, dass die zuletzt durchgeführten Studien immer mit Kindern durchgeführt wurden, die ein hohes familiäres Allergierisiko trugen. Inwieweit allgemeingültige Empfehlungen für eine gesamte Population daraus abgeleitet werden können, ist strittig.
Bilanz
Das aktuelle Review zeigt, dass derzeit keine Änderung der WHO Empfehlung notwendig ist. Die Forscher betonen die begrüßenswerte Tendenz, in den nationalen Beikost-Empfehlungen stärker die individuelle kindliche Entwicklung und Reife zu berücksichtigen und halten dies für eine sinnvolle Ergänzung der WHO-Empfehlung. Daher gilt: ausschließliches Stillen bis rund um den 6. Lebensmonat, Einführung der Beikost unter Berücksichtigung der kindlichen Reife und Bereitschaft mit fester Nahrung zu beginnen. Um dieses Ziel erreichen zu können, ist eine gute Unterstützung stillender Mütter, insbesondere in den ersten Tagen und Wochen, notwendig.
Als allgemeingültige Empfehlungen für ganze Gesellschaften können diese Richtlinien nicht jeden speziellen Einzelfall abbilden, weshalb für einzelne Untergruppen von Säuglingen zusätzliche Maßnahmen notwendig sein können (bspw. Eisenupplementierung), ohne dass dadurch das Ziel, ca. 6 Monate ausschließlich zu stillen, verändert werden müsste.
Den vollständigen Artikel (englisch) finden Sie → hier.
Ergänzende und weiterführende Informationen finden Sie außerdem auf unseren beiden folgenden Fachseiten:
© Juli 2019, Elisabeth Weitlaner (IBCLC) und Anja Bier (IBCLC) für den Newsletter des Europäischen Instituts für Stillen und Laktation