Flaschen, Sauger und Werbeversprechen: eine umfassende Übersicht über den deutschen Markt
Anlage zum EISL-Newsletter Oktober 2024
National survey of infant feeding bottles in Germany: Their characteristics and marketing claims
Melissa A. Theurich, M. Ziebart, F. Strobl; Matern Child Nutr. 2024;20:e13632. https://doi.org/10.1111/mcn.13632
Das wichtigste in Kürze:
- Werbung für künstlich hergestellte Säuglingsnahrung steht immer wieder in der Kritik, weil häufig unzulässige Behauptungen aufgestellt werden ("muttermilchnah", "für eine optimale Entwicklung Ihres Babys" usw.).
- Säuglingsnahrungen werden regelmäßig von unabhängigen Instituten untersucht und in der Öffentlichkeit kritisch miteinander verglichen – ein entsprechendes Äquivalent für Flaschen und Sauger fehlt jedoch.
- Eine aktuelle Studie hat den deutschen Markt für Flaschen und Sauger gründlich untersucht und sowohl die Eigenschaften der Produkte als auch die dazugehörenden Werbeversprechen kritisch unter die Lupe genommen.
- Der Großteil der Firmen verwendet unzulässige Behauptungen in der Vermarktung ihrer Produkte. Außerdem sind viele Flaschen und Sauger ungeeignet für eine physiologische Ernährung von Säuglingen und können das Risiko für Überfütterung, Übergewicht und Adipositas für Kinder erhöhen.
Eine Anfang 2024 veröffentlichte Studie hat erstmals den deutschen Markt für Flaschen und Sauger umfassend untersucht. Melissa Theurich und ihr Team aus München ermittelten dabei, dass zuletzt (Untersuchungszeitraum war die zweite Jahreshälfte 2022) insgesamt 226 verschiedene Flaschen und 221 verschiedene Sauger erhältlich waren. Diese Produkte werden von insgesamt 41 verschiedenen Herstellern produziert.
Allein diese Zahlen machen deutlich, dass die Situation für Eltern äußerst unübersichtlich ist und sicher viele Familien überfordert, selbst wenn sie vor Ort im Drogeriemarkt nur einen Teil der Produkte vorfinden.
Auch in Deutschland (so wie weltweit) werden tausende von Säuglingen jedes Jahr zumindest teilweise mit der Flasche gefüttert – ein riesiger Markt, nicht nur für die Nahrung, die in die Flasche gefüllt wird, sondern auch für die Flaschen, Sauger, Dosierungs- und Reinigungs-Zubehör etc.
Die WHO hat bereits 1981 im Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten (häufig kurz als "WHO-Kodex" bezeichnet) auch Flaschen und Sauger explizit mit aufgenommen (lesen Sie mehr zu diesem Thema auf unserer → Fachseite)
Eigentlich sollte der WHO-Kodex in eine nationale Gesetzgebung überführt werden, so dass auch Sanktionen gegen Verstöße der Hersteller möglich sind. Die EU hat die strengen Vorschläge des Kodex jedoch bisher nicht vollständig umgesetzt und die deutsche Gesetzgebung zur Vermarktung von Flaschen und Saugern ist im Vergleich noch schwächer. Für Produkte ab dem Beikostalter gibt es überhaupt keine Bestimmungen. Darüberhinaus ist keine Stelle eingerichtet, die für die Überwachung und Durchsetzung der Inhalte des Kodex zuständig ist. Lediglich die gemeinnützige Aktionsgruppe Babynahrung (→ www.babynahrung.org) bemüht sich um das Sammeln von Verstößen – erhält jedoch keine staatliche Unterstützung.
Die aktuelle Studie identifizierte eine Vielzahl von Werbeversprechen, die von den Herstellern für ihre Flaschen und Sauger verwendet werden und die nach WHO-Kodex eigentlich unzulässig sind. Beispiele dafür:
• "Imitiert das physiologische Brustdrüsengewebe während des Stillens"
• "Speziell für gestillte Kinder entwickelt"
• "Einzigartige Form der Flasche – so wie die Mutterbrust während des Stillens"
• "Unterstützt die Mundmuskulatur bei der korrekten Funktion"
• "Unterstützt die Verdauung"
• "Perfekt um Ihr Baby in seiner Selbständigkeit zu unterstützen"
• "Von Hebammen empfohlen"
usw.
Insgesamt 93% der Hersteller verwendeten mindestens ein, die meisten gleich mehrere unzulässige Werbeversprechen. Besonders häufig war dabei die Betonung der Ähnlichkeit oder Gleichwertigkeit zum Stillen, was einen schwerwiegenden Verstoß gegen den WHO-Kodex darstellt.
Doch nicht nur die Werbung für die Produkte ist problematisch: Flaschen mit deutlich zu großem Volumen und Sauger mit zu großer Flussgeschwindigkeit oder sogar "Breisauger" tragen zu einer systematischen Überfütterung von flaschenernährten Kindern bei, wie bereits in etlichen Studien nachgewiesen wurde. Die deutsche Studie identifiziert eine Vielzahl von problematischen Produkten in diesem Zusammenhang. Auch weitere Themen wie Material und Reinigung werden angesprochen.
Die Autorinnen empfehlen, dass Deutschland eine effektive Gesetzgebung im Sinne des WHO-Kodex erlässt und Mechanismen etabliert, die die Einhaltung dieser Standards überwachen und bei unethischem Marketing Sanktionen möglich machen. Einheitliche Anforderungen für eine sichere und physiologische Ernährung von Säuglingen sollen geschaffen werden.
Die Studie ist vollständig (open access, englisch) → hier erhältlich.
ERGÄNZENDE ANMERKUNGEN
Eltern haben ein Recht auf unabhängige und evidenzbasierte Informationen, die sie dabei unterstützen, den Werbeversprechen der Industrie nicht blind zu vertrauen. Auch Still- und Laktationsberater:innen IBCLC sollten daher Familien gut beraten können, die sich – aus welchem Grund auch immer – dafür entscheiden, Flaschen und Sauger zu verwenden. Informieren Sie sich zu diesem Thema auf unserer Fachseite
→ Begleitung von Eltern, die ihr Kind mit der Flasche füttern
Dort finden Sie auch Dokumente zum Download, in denen wir zur Form von Saugern und Schnullern Stellung nehmen und Informationen zum sinnvollen Umgang mit diesen Hilfsmitteln geben.
© Oktober 2024, Gudrun von der Ohe, Ärztin und IBCLC
und das EISL-Newsletter-Team:
Anja Bier, IBCLC; Rhiannon Grill, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Simone Lehwald, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC