Europäisches Institut für Stillen und Laktation

Frühe Zufütterung von Formulanahrung

Anlage zum Newsletter Juli 2018

Formula Milk Supplementation on the Postnatal Ward: A Cross-Sectional Analytical Study
K.V. Bigg, K. Hurrell, E. Matthews, E. Khaleva, D. Munblit and R.J. Boyle. Nutrients 2018, 10(5), 608. https://doi.org/10.3390/nu10050608

Die internationalen Empfehlungen sind sehr klar: ein Neugeborenes benötigt ausschließlich Kolostrum/Muttermilch seiner eigenen Mutter, die es normalerweise durch direktes Stillen an ihrer Brust erhält. In Fällen, in denen das nicht vollständig möglich ist oder das Neugeborene zusätzlich Nahrung erhalten soll, wird die Mutter angeleitet, Kolostrum/Muttermilch von Hand oder mit Hilfe einer Pumpe zu gewinnen und diese dem Baby zu verabreichen (idealerweise mit einer stillfreundlichen Zufütterungsmethode). Sollten trotz Überprüfung des Stillmanagements und der zusätzlichen Gewinnung von Muttermilch medizinische Gründe auftreten, weshalb das Neugeborene zusätzlich Nahrung benötigt, soll dieses zusätzlich eine geeignete Säuglingsanfangsmilchnahrung erhalten.

Obwohl diese Vorgehensweise seit vielen Jahren in allen Geburtskliniken weltweit Standard sein sollte, werden noch immer sehr häufig Säuglinge mit Formulanahrung zugefüttert, bei denen keine medizinische Indikation dafür vorliegt. Eine aktuelle britische Studie hat sich nun mit der Frage beschäftigt, woran das liegt.

Die Studie führt zunächst aus, was wir bereits wissen: Es ist bekannt, dass eine frühe Zufütterung im Zusammenhang mit einer geringeren Gesamt-Stilldauer steht und dass häufig bei "Stillschwierigkeiten" ohne andere Maßnahmen oder der Suche nach einer Erklärung für diese Schwierigkeiten zugefüttert wird. Frühere Studien ergaben, dass Hebammen regelmäßig ihren enormen Einfluss auf die mütterlichen Entscheidungen zur Ernährung ihres Kindes unterschätzen und dass in vielen Häusern eine eher ablehnende Haltung des Fachpersonals gegenüber Veränderungen oder dem Stillen allgemein gegenüber vorhanden ist. Außerdem konnten Studien zeigen, dass die Qualität der Ausbildung von Hebammen und anderem Fachpersonal wesentlich zum Wissen über das Stillen und zur Umsetzung stillfreundlicher Standards beiträgt.

Die aktuelle Studie zielte darauf, mütterliche Einflussfaktoren und Einfussfaktoren durch Fachpersonal (hier im Speziellen Hebammen) zu identifizieren, die zu einer frühen, medizinisch nicht indizierten, Zufütterung beitragen. An zwei Kliniken in Großbritannien wurden zunächst über ein Jahr Daten über die Fütterungsmethode bei Entlassung gesammelt. Dann wurden an einer der beiden Kliniken über den Zeitraum von einem Monat alle zur Zeit entbundenen Mutter-Kind-Paare zusätzlich mittels der Aktenlage genau untersucht und es wurde zwischen medizinisch indizierter Zufütterung (10 %) und Zufütterung insgesamt (28%) unterschieden. Es wurden Interviews mit betroffenen Müttern auf der Wochenstation und Interviews mit den dort arbeitenden Hebammen geführt.
Die untersuchte Klinik ist nicht babfreundlich zertifiziert, hatte aber das komplette Personal nach den Kriterien von BFHI schulen lassen.

Die Studie identifizierte folgende mütterliche Faktoren, die einen Einfluss auf frühe Zufütterung ohne medizinische Indikation hatten: Bildungsgrad der Mütter, Besuch eines Stillvorbereitungskurses, ununterbrochener Hautkontakt nach Geburt für mindestens eine Stunde. Auf Seiten des Personals ergaben sich folgende Informationen:
- Das Personal wurde von Müttern, die nicht gut vorbereitet waren, unter Druck gesetzt, ihnen Formulanahrung zu geben
- Das Personal hatte den Eindruck, dass manche Stillvorbereitungskurse die Situation eher verschlechterten, weil die dort gezeigten Videos unrealistische Erwartungen bei den Müttern weckten
- Das Personal beklagte Zeit- und Personalmangel, was oft dazu führte, dass keine ausreichende 1-zu-1-Betreuung bei der Stillunterstützung möglich war. Hebammen verbrachten insgesamt nur 12% ihrer Zeit damit, Mütter direkt beim Stillen zu unterstützen, jedoch 50% am Computer (Dokumentation und Verwaltungsaufgaben)

Trotz der BFHI-Vorgaben, die vorschreiben, dass alle Frauen zur Handentleerung angeleitet werden und dass bei Gabe von Formula dokumentiert werden muss, welche Maßnahmen mit der Mutter besprochen wurden und welche Möglichkeiten ihr anstelle von Formula aufgezeigt wurden, konnten sich nur 38% der Mütter an eine Anleitung zur Handentleerung erinnern. Auf Stationen, auf denen der Personalschlüssel besonders niedrig war, wurden die höchsten Zufütterungsraten verzeichnet. Mehr Personal führte auch zu einer höheren Zufriedenheit des Personals und beeinflusste dadurch auch die Entschlossenheit, sich um jede Mutter wieder intensiv zu bemühen.

Obwohl das Personal an der Klinik zum Stillen geschult worden war, konnte nur ein Drittel der Befragten drei Fälle nennen, in denen sie aus medizinischen Gründen zufüttern mussten. Zufütterung erfolgte manchmal auch heimlich (ohne Dokumentation) und einige Male wurde "Wunsch der Mutter" angegeben, obwohl das Personal von sich aus den Vorschlag gemacht hatte. Die Studie nimmt hier Bezug auf Daten aus früheren BFHI-Studien, die zeigten, dass neben einer ausreichend fundierten Schulung auch die innere Haltung des Personals und ihre Einstellung gegenüber dem Stillen von fundamentaler Bedeutung sind. Es zeigte sich auch, dass Fachkräfte, die über die minimale Schulung hinaus zum Stillen weitergebildet waren, geringere Zufütterungsraten in ihren Schichten verantworteten.

Die Studie ist vollständig (englisch) → hier zugänglich.


Association of Exposure to Formula in the Hospital and Subsequent Infant Feeding Practices With Gut Microbiota and Risk of Overweight in the First Year of Life
Forbes JD, Azad MB, Vehling L, et al. JAMA Pediatr. 2018;172(7):e181161. https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2018.1161

Eine aktuelle kanadische Studie beschäftigte sich mit dem fäkalen Mikrobiom von Säuglingen, die ausschließlich gestillt wurden oder die zusätzlich Formula erhielten. Außerdem wurde Übergewicht im Alter von 12 Monaten untersucht.

Die Studie untersuchte das fäkale Mikrobiom der Säuglinge im Alter von 3 - 4 Monaten und erneut im Alter von 12 Monaten. Es zeigte sich, dass zu beiden Zeitpunkten das Mikrobiom davon abhing, ob das Kind gestillt wurde oder nicht.
Ausschließliches Stillen mit 3 Monaten brachte eine andere bakterielle Besiedelung mit sich als teilstillen oder vollständige Ernährung mit Formula, wobei das Mikrobiom von teilgestillten Kindern dem von rein künstlich ernährten Kindern ähnelte. Für beide letztgenannten Gruppen zeigte sich dann mit 12 Monaten ein höheres Risiko für Übergewicht.
Kinder, die mit 6 Monaten noch gestillt wurden und dann ohne Formulanahrung direkt zur Beikost übergingen, hatten mit 12 Monaten noch immer in anderes Mikrobiom als Kinder, die bei Einführung der Beikost teilgestillt oder gar nicht gestillt worden waren.
Säuglinge, die als Neugeborene kurfristig in der Klinik mit Formula zugefüttert worden waren, hatten übrigens ebenfalls ein leicht verändertes Mikrobiom im Alter von 3 - 4 Monaten, auch wenn sie seither ausschließlich gestillt wurden. Diese Veränderung war jedoch nicht mit einem erhöhten Risiko für Übergewicht im Alter von 12 Monaten assoziiert.

Das Abstract der Studie (englisch) finden Sie → hier.

© Juli 2018, Anja Bier (IBCLC) für den Newsletter des Europäischen Instituts für Stillen und Laktation

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