Hyperbilirubinämie beim Neugeborenen: der Stand des Wissens
Anlage zum EISL-Newsletter Juli 2021
Breastfeeding in Relation to Neonatal Jaundice in the First Week After Birth: Parents' Perceptions and Clinical Measurements
Y.-W. Chiu, S.-W. Cheng, C-Y. Yang and Y.-H. Weng. Breastfeeding Medicine Vol. 16, No. 4, 2021; 292-299. DOI: https://doi.org/10.1089/bfm.2020.0293
und
Baby-Friendly Hospital Initiative Is Associated with Lower Rates of Neonatal Hyperbilirubinemia
Jennifer A. Hudson, Elizabeth Charron, Britni Maple, Mark Krom, Smith F. Heavner-Sullivan, Rachel M. Mayo, Lori Dickes and Lior Rennert. Breastfeeding Medicine Vol. 15, No. 3, 2020. DOI: https://doi.org/10.1089/bfm.2019.0220
Das wichtigste in Kürze:
- Ein Neugeborenen-Ikterus stellt ein Risiko für frühzeitiges Abstillen dar und Eltern sind meist zu wenig über Ursachen, Prävention und Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt
- Babyfreundlich zertifizierte Kliniken haben signifikant geringere Hyperbilirubinämie-Raten, was auf das bessere Stillmanagement zurückzuführen ist
- Es existieren klare Leitlinien und Protokolle zur Prävention und Behandlung der Hyperbilirubinämie, die jedoch auch hierzulande nicht immer bekannt sind
In diesem Artikel stellen wir zwei Studien aus 2020 und 2021 vor, die zeigen, dass gutes Stillmanagement entscheidend zur Prävention und Behandlung einer Hyperbilirubinämie beim Neugeborenen beiträgt und dass gleichzeitig die Entwicklung eines Neugeborenen-Ikterus einen Risikofaktor für die Etablierung des ausschließlichen Stillens darstellt. Im zweiten Abschnitt weiter unten geben wir daher einen Überblick über Ursachen, Prävention und Behandlung der neonatalen Hyperbilirubinämie.
In einer prospektiven Querschnittsstudie der Medizinischen Universität Taipeh (Taiwan) wurden Eltern mittels Fragebogen interviewt und ihre Säuglinge bezüglich einer Hyperbilirubinämie untersucht. Alle Familien mit gesunden Neugeborenen konnten an der Studie teilnehmen, die Eltern wurden zur Wahrnehmung und zum Wissen der Neugeborenengelbsucht befragt. Viele Eltern kannten die Möglichkeit der Fototherapie, knapp 24% glaubten aber auch, dass es für die Behandlung besser sei, nicht zu stillen. Knapp 30% der Eltern nahmen an, dass ausschließliches Stillen einen Risikofaktor für die Entwicklung eines Neugeborenen-Ikterus darstellt.
Eine neonatologische Hyperbilirubinämie stellt somit ein Risiko für die Etablierung des ausschließlichen Stillens dar.
Das Abstract zur Studie (englisch) finden Sie → hier.
Eine kalifornische Studie verglich die Daten von rund 1.000 Neugeborenen, die vor der Etablierung des babyfreundlichen Konzepts (BFHI) und rund 1.000 Neugeborenen, die nach der babyfreundlichen Zertifizierung in einer Klinik geboren wurden. Es zeigte sich, dass die Hyperbilirubinämie-Rate von zuvor 20% auf 7% sank. Von zuvor rund 6% Kindern, die eine Fototherapie benötigten, sank die Rate auf rund 2%. Gleichzeitig gab es keine Veränderung der Anzahl an Kindern, die nach Entlassung aufgrund einer Hyperbilirubinämie wieder in die Klinik zurückkehren mussten.
Die Forscher betonen, dass es ein alter Irrglaube ist, Stillen würde einen Risikofaktor für die Entwicklung eines behandlungsbedürftigen Neugeborenen-Ikterus darstellen. Im Gegenteil konnte die Studie zeigen, dass gutes Stillmanagement dazu beiträgt, das Risiko deutlich zu senken.
Die vollständige Studie (englisch) ist frei zugänglich → hier zu finden.
Informationen und Leitlinien zur Hyperbilirubinämie
Die Hyperbilirubinämie des Neugeborenen ist relativ häufig. Laut Literatur werden etwa 50 Prozent der reifen gesunden Neugeborenen sichtbar gelb, dies gilt als physiologisch. Das Bilirubin wird temporär im Unterhautfettgewebe „zwischengelagert“. Erst wenn die Werte zu stark ansteigen, ist eine Therapie erforderlich.
Für den physiologischen Neugeborenenikterus liegen im Wesentlichen vier Ursachen vor:
- Erhöhter Hämatokrit aufgrund des relativen Sauerstoffmangels im fetalen Kreislauf (Mischblut im gemeinsamen Kreislauf mit der Mutter während der Schwangerschaft, Lungenkreislauf des Neugeborenen wird erst nach der Geburt aktiv)
- Verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten (80 Tage bei fetalen und 120 Tage bei adulten Erythrozyten)
- Verminderte Aktivität der Glucuronyltransferase in der Leber, die das indirekte (unkonjungierte) Bilirubin konjugiert und über die Gallenwege ausscheiden lässt. Bei Frühgeborenen ist diese Funktion noch stärker eingeschränkt und im asiatischen Raum gibt es Varianten des Enzyms mit anfänglich verzögerter voller Funktionsfähigkeit
- Gesteigerte enterohepatische Rückresorption: Bilirubin wird vor allem über den Darm ausgeschieden, nicht über die Niere (alter Irrglaube!) – zusätzliche Gabe von Wasser oder Tee sind somit kontraproduktiv. Eine Verzögerung der Mekoniumausscheidung bewirkt eine erhöhte enterohepatische Resorption von Bilirubin, die frühe und häufige Kolostrumgabe (Stillen) ist daher essentiell.
Außerdem gibt es verschiedene Risikofaktoren, die zu einer Hyperbilirubinämie beitragen können:
• ABO-Inkompatibitäten (direkter Coombs-Test zeigt Antikörper auf)
• RH-Inkompatibilitäten
• gespendete Eizellen, wenn die Blutgruppe der Spenderin von der Empfängerin abweicht
• Kephalhämatom
• Frühgeburt
• Fetale Mangelernährung
• Infektionen des Neugeborenen
• Glukose-6-Phospatdehydrogenasemangel
Wir unterscheiden ZWEI ARTEN DER NEONATALEN HYPERBILIRUBINÄMIE:
Früher Ikterus/ "early onset"
Diese Form des Ikterus wurde früher manchmal auch als "Still-Ikterus" bezeichnet, was mit dem heutigen Stand des Wissens in keiner Weise mehr zu vereinbaren ist. Die Ursache für die Beobachtung, dass gestillte Kinder häufiger einen frühen Ikterus entwickelten, beruhte auf mangelhaftem Stillmanagement.
Der frühe Ikterus hat seinen Gipfel am 3. bis 5. Lebenstag (Dauer: ca. 10 Tage) und kommt gehäuft bei Erstgebärenden vor, da Mehrgebärende leichter in die Laktogenese 2 kommen (Memory-Funktion der Laktozyten).
Die beste Prävention gegen diese Form des Ikterus ist das frühe und häufige Stillen, wodurch das Mekonium und somit das konjugierte Bilirubin frühzeitig ausgeschieden wird. Bei optimalem Stillmanagement sollte ein Neugeborenes innerhalb der ersten 8 Stunden pp erstmals Mekonium ausscheiden und ab dem 3./4. Tag pp mindestens 3x täglich Stuhlgang haben. Eine Stillpause ist nicht erforderlich!
Die Therapie erfolgt als Fototherapie, die nach Möglichkeit ohne Mutter-Kind-Trennung durchzuführen ist und für das Stillen zwischendurch jederzeit kurz unterbrochen werden kann und soll.
Ikterus prolongatus/ "late onset"
Diese Form des Ikterus wurde früher häufig als "Muttermilch-Ikterus" bezeichnet, da die Ursache in einer vermehrten enterohepatischen Resorption liegt, die bei manchen Frauen durch Muttermilch bedingt ist und alle Kinder dieser Mutter betrifft. Obwohl diese Form des Ikterus normalerweise keine Komplikationen mit sich bringt, birgt eine Bezeichnung wie "Muttermilch-Ikterus" das Risiko, dass verunsicherte Familien glauben, das Stillen wäre für ihr Baby riskant. Auch Freunde und Verwandte hören diese Bezeichnung und tragen sie weiter, ohne genau über die Ursachen und Optionen Bescheid zu wissen.
Sichtbar wird diese Form des Ikterus ab dem 5. Tag pp und kann bis zu drei Monaten dauern, ohne dass im Verlauf erneut therapiebedürftige Werte auftreten. Wichtig ist, dass andere Ursachen ausgeschlossen werden, wie z.B. eine Gallenabfluss-Störung, eine zentrale Hypothyreose oder eine Galaktosämie. Eine Stillpause ist auch hier nicht erforderlich, auch nicht „um eine Diagnose zu stellen“, wie es früher manchmal üblich war.
Die Therapie erfolgt wie beim frühen Ikterus ggf. mit Fototherapie. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass diese Art von Ikterus, unter Einhaltung der Therapiegrenzen, für das Kind negative Auswirkungen hat.
PHYSIOLOGIE
Der Neugeborenen-Ikterus wird als prähepatischer Ikterus bezeichnet, weil die Ursache prähepatisch liegt. Das nach der Geburt frei werdende Bilirubin (als "indirektes Bilirubin" bezeichnet = unkonjugiertes Bilirubin) muss an Eiweiß (Albumin) gebunden werden, um zur Leber transportiert werden zu können. Dort wird es durch das Enzym Glukuronyltransferase konjugiert (nun wird es als "direktes Bilirubin" bezeichnet) und dann zu 98% über den Darm ausgeschieden.
Da der Darm des Neugeborenen noch nicht mit Bakterien besiedelt ist, die das Bilirubin weiter verstoffwechseln, kann ein Teil des dort bereits zur Ausscheidung vorbereiteten Bilirubins wieder rückresorbiert werden und muss erneut von der Leber verarbeitet werden (sogenannter enterohepatischer Kreislauf). Eine rasche und häufige Darmentleerung ist also wünschenswert: Kolostrum wirkt verdauungsfördernd/ abführend und enthält genügend Eiweiß, Kalorien sowie 87% Wasser, so dass keine zusätzliche Gabe von Flüssigkeit oder anderer Nahrung notwendig ist.
Sind die Kapazitäten der Leber überfordert, wird das Bilirubin im Unterhautfettgewebe bis zum Abbau "zwischengelagert". Ein Ikterus wird normalerweise zuerst an den Skleren der Augen bei einem Spiegel von 2 - 3 mg/dl (34 - 51 µmol/l) sichtbar, im Gesicht bei etwa 4 - 5 mg/dl (68 - 86 µmol/l). Bei steigenden Bilirubinwerten schreitet der sichtbare Ikterus von Kopf zu Fuß voran. Etwas mehr als die Hälfte aller Neugeborenen wird in den ersten Lebenswochen sichtbar ikterisch.
DIAGNOSE UND THERAPIE
Fallen Neugeborene durch eine sichtbare Gelbfärbung der Haut auf, erfolgt als erstes die transkutane Bilirubinbestimmung (TcB). Sind die Werte sehr hoch, muss dann eine blutige Messung erfolgen mit Gesamtbilirubin und ggf. einer Spezifizierung zwischen direktem (konjugiertem) und indirektem (unkonjugiertem) Bilirubin. Liegt der Wert im Normogramm zwischen der 75. und 95. Perzentile, wird eine transkutane Wiederholungsmessung nach 12 oder 24 Stunden empfohlen. Eine Einschätzung der Werte kann auch über die Website www.bilitool.org vorgenommen werden.
Hohe Werte verlangen als Therapie eine Fototherapie, wobei eine Mutter-Kind-Trennung vermieden werden soll. Das Stillen ist Teil der Therapie und darf nicht behindert werden!
Fototherapie kann zum Stillen unterbrochen werden, wenn dadurch die Gesamtdauer von insgesamt 12h Therapie innerhalb von 24h nicht beeinträchtigt wird. Nur wenn das Neugeborene so schläfrig ist, dass es nicht effektiv an der Brust stillt, sollte die Mutter zur Handgewinnung von Kolostrum bzw. nach den ersten Tagen zum Abpumpen von Muttermilch angeleitet werden. Kolostrum und Muttermilch sollten dann stillfreundlich verfüttert werden.
Nur falls die Fototherapie nicht ausreichend ist, werden weitere Schritte erforderlich.
LEITLINIEN
Die AWMF-Leitlinie der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (→ AWMF-Leitlinien-Register Nr. 024/007) gibt einen guten Überblick, ist allerdings zuletzt 2015 überarbeitet worden. Eine Aktualisierung ist in Arbeit.
Das → ABM-Protokoll Nr. 22 "Guidelines for Management of Jaundice in the Breastfeeding Infant 35 Weeks or More of Gestation" (englisch) wurde zuletzt 2017 überarbeitet und ist sehr empfehlenswert als Vorlage für die Etablierung klinikinterner Standards zur Prävention und Behandlung der neonatalen Hyperbilirubinämie.
© Juli 2021, Gudrun von der Ohe (Ärztin und IBCLC)
und das EISL-Newsletter-Team: Anja Bier, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC