Neues ABM Protokoll Nr. 36: Mastitis-Spektrum
Anlage zum EISL-Newsletter Juni 2022
ABM Clinical Protocol #36: The Mastitis Spectrum, Revised 2022
Katrina B. Mitchell, Helen M. Johnson, Juan Miguel Rodriguez, Anne Eglash,
Charlotte Scherzinger, Irena Zakarija-Grkovic, Kyle Widmer Cash, Pamela Berens,
Brooke Miller and the Academy of Breastfeeding Medicine. Breastfeeding Medicine, 17. Mai 2022. DOI: https://doi.org/10.1089/bfm.2022.29207.kbm
Das wichtigste in Kürze:
- In der Vergangenheit wurden Mastitiden meist als einfache bakterielle Infektion der Brust betrachtet. Heute wissen wird, dass die Situation komplexer ist und sprechen daher eher von einem Spektrum an entzündlichen Symptomen und Ursachen, die ineinander übergehen.
- Die ehemaligen ABM-Protokolle Nr. 4 (Mastitis) und Nr. 20 (Initiale Brustdrüsenschwellung) werden zurückgezogen und durch das neue Protokoll Nr. 36 ersetzt.
- Ein gutes Stillmanagement und die Vermeidung von offenen Wunden an der Brust sind weiterhin die besten Präventionsmaßnahmen, um Stauungen, das Eindringen von Keimen sowie eine Dysbiose des Mikrobioms in der Brust zu vermeiden.
Die ABM-Protokolle (Academy of Breastfeeding Medicine) dienen seit vielen Jahren als richtungsweisende Leitlinien in der Behandlung und Begleitung stillender Frauen und deren Kinder.
Das Protokoll Nr. 36 wurde komplett neu erstellt und listet detailliert mögliche Ursachen, Symptome und Behandlungsoptionen auf.
Die jüngste Forschung zeigt immer klarer, welch wichtige Rolle das Mikrobiom einnimmt – eine Gemeinschaft von Mikroorganismen, die unseren Körper besiedeln. Das Mikrobiom der Brust ist ein entscheidender Faktor für die Brustgesundheit. Ein natürlicher Biofilm kleidet auch die Milchgänge aus und unterstützt den Milchfluss. Die Zusammensetzung des Biofilms ist individuell und abhängig von einer Vielzahl von Einflussfaktoren, z.B. dem Stillmanagement, der Ernährung, Wundpflege im Fall von wunden Mamillen, genetischen Faktoren, dem Einsatz von Medikamenten usw.
Das Mikrobiom kann in ein Ungleichgewicht geraten, eine sogenannte Dysbiose (mammary dysbiosis), wodurch schädliche Keime die Überhand gewinnen und sich die Wände der Milchgänge verdicken können, so dass die Milch schlechter fließen kann. Dies führt zu Stauungen im Drüsengewebe und einer Verstärkung der Entzündungsreaktion, bis schließlich je nach Art der vorliegenden Keime das Vollbild einer subakuten oder einer bakteriellen Mastitis entstehen kann.
Im Deutschen unterscheiden wir sprachlich zwischen einem "Milchstau" und einer "Mastitis/ Brustentzündung", die Abgrenzung ist jedoch schwierig und der Übergang oft fließend. Auch das englische ABM-Protokoll beschreibt einen im Schweregrad zunehmenden Verlauf, der ebenfalls nicht scharf voneinander abgrenzbare verschiedene Stadien innerhalb des Mastitis-Spektrums umfasst.
Milchgänge sind häufig miteinander verbunden und bilden ein Netz aus Abzweigungen und Verbindungen. Begrenzte Areale, die gerötet und verhärtet sind, zeigen wahrscheinlich die durch Dysbiose entstandene Verengung mehrerer Milchgänge innerhalb eines Bereichs, wodurch ein Rückstau mit den bekannten Symptomen entsteht.
Immer wieder beobachtbar ist außerdem eine weißliche oder gelbliche kleine Verdickung an der Mamillenspitze, die zusätzlich überhäutet sein kann und scheinbar einen einzelnen Milchausführungsgang am Abfließen hindert. Dieses Phänomen, im Englischen als "nipple bleb" bezeichnet und im Deutschen meist als "Milchbläschen" bezeichnet, tritt häufiger in Verbindung mit subakuten Mastitiden auf und ist eine Folge von Ablagerungen aus dem in die Dysbiose geratenen Biofilm der Milchgänge. Das ABM-Protokoll rät davon ab, das Bläschen zu eröffnen und empfiehlt stattdessen die Einnahme von Lecithin sowie das Auftragen einer steroidhaltigen Creme an der Mamillenspitze, um die lokale Entzündungsreaktion zu verringern.
Der Übergang von einer Dysbiose zu systemischen entzündlichen Symptomen, sowie nachfolgend zu einer bakteriellen Mastitis der Brust, ist fließend und nicht in allen Fällen ähnlich ausgeprägt. Die bakterielle Infektion wird typischerweise ausgelöst durch das Überhandnehmen von toxinbildenden Bakterien (v.a. Staph. aureus). In welchem Umfang das Einwandern von Keimen durch wunde Mamillen eine Rolle bei der Entwicklung einer bakteriellen Infektion spielt, ist bisher nicht vollständig geklärt. Eine gute Handhygiene und vernünftige Hygienemaßnahmen bei der Verwendung einer Pumpe sind daher weiterhin als Präventionsmaßnahme sinnvoll.
Mit zunehmendem Schweregrad der Mastitis können sich diffuse Entzündungsherde innerhalb des Drüsengewebes bilden, die schließlich zur Bildung von Abszessen führen können.
Das Wissen rund um die "klassische" bakterielle Mastitis ist meist vorhanden. Seit einiger Zeit wissen wir nun auch mehr über sogenannte subakute Mastitiden, die sich durch ein Brennen/Stechen in der Brust zeigen und bei der die typischen Entzündungszeichen fehlen. Wo man früher "Milchgangssoor" als Ursache vermutete, wird nun deutlich, dass die Dysbiose des Mikrobioms mit einer Verdickung des Biofilms aus koagulase-negativen, nicht toxinbildenden Keimen (z.B. Staph. epidermis und Staph. haemloyticus oder Strept. salivarius und Strept. mitis) die Ursache für die Symptome ist.
Zur Prävention von Beschwerden aus dem Spektrum der Mastitiden gehört eine gute Aufklärung und Basiswissen über Milchbildung und den Aufbau der Brust. Frauen, die die Fülle ihrer Brust, Spannungsgefühle und lokale Verhärtungen gut einschätzen können, sind in der Lage, frühzeitig auf einen beginnenden Milchstau zu reagieren und rasch Gegenmaßnahmen einzuleiten, bevor es zu einer Verschärfung der Situation kommt. Ein sinnvolles Stillmanagement, das auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage beruht und nicht unnötig in das System eingreift, ist die beste Prävention.
Im ABM-Protokoll wird ausdrücklich vor Empfehlungen zum "gründlichen Entleeren" der Brust bei jeder Stillmahlzeit gewarnt, auch "Nachpumpen/Leerpumpen" o.ä. ist nicht sinnvoll. Es scheint, als ob solche Empfehlungen im englischsprachigen Raum so verbreitet sind, dass Frauen häufig in eine Überproduktion getrieben werden, die dann widerum in entzündlichen Prozessen enden kann.
Im deutschsprachigen Raum ist dieses Problem unserer Einschätzung nach weniger verbreitet, es ist jedoch trotzdem sinnvoll, immer wieder sicherzustellen, dass stillende Mütter keine Fehlinformationen (z.B. auch durch Social Media) erhalten und das Prinzip von Angebot und Nachfrage verstehen.
Wenn bereits eine Stauung oder entzündliche Anzeichen aufgetreten sind, ist es sinnvoll, die betroffene Brust häufig zum Stillen anzubieten oder im Fall einer Trennung von Mutter und Kind weiterhin regelmäßig mit Hilfe einer Pumpe zu entlasten. Ein übermäßiges oder zusätzliches Pumpen und der Fokus auf "Entleerung" hingegen ist nicht hilfreich und kann im ungünstigen Fall das Problem verstärken.
Ergänzende Maßnahmen wie Kühlung der betroffenen Region, Ruhe/Bettruhe, sanfte Massage/ Lymphdrainage, Schmerzmittel bei Bedarf sowie der Einsatz von Antibiotika bei Vorliegen einer bakteriellen Infektion sind angezeigt. Der Einsatz von Lecithin sowie Probiotika kann unterstützend wirken, ist aber noch nicht abschließend durch Evidenzen abgesichert.
Vor tiefen, schmerzhaften Massagen und "Ausmassieren zur Entleerung" warnt das ABM-Protokoll ausdrücklich. Neben den allgemeinen Empfehlungen werden zusätzlich für jeden Schweregrad weitere konkrete Maßnahmen (medikamentös und nicht-medikamentös) aufgelistet.
Derzeit ist das Protokoll nur im englischen Original (→ hier) erhältlich. Häufig werden die ABM-Protokolle jedoch ins Deutsche übersetzt, so dass in einiger Zeit möglicherweise eine solche zur Verfügung steht.
Lesen Sie weiter:
Unsere EISL-Fachseite → Milchstau, (subakute) Mastitis und Abzess enthält detaillierte Informationen zu Ursachen, Prävention und Therapie sowie zu möglichen Differentialdiagnosen.
© Juni 2022, Anja Bier (IBCLC)
und das EISL-Newsletter-Team:
Rhiannon Grill, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC; Gudrun von der Ohe, IBCLC