Europäisches Institut für Stillen und Laktation

Produkte gegen "Bauchweh" und "Koliken" bei Säuglingen? Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion

Anlage zum EISL-Newsletter Januar 2024

Public statement on the use of herbal medicinal products containing estragole
European Medicines Agency (EMA), Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC). EMA/HMPC/137212/2005 Rev 1 Corr 1. https://www.ema.europa.eu/en/use-herbal-medicinal-products-containing-estragole-scientific-guideline

Das wichtigste in Kürze:

  • Ausschließlich gestillte Säuglinge benötigen keine Tees oder andere Produkte, um "Bauchweh" oder "Koliken" entgegenzuwirken. Trotzdem werden solche Produkte in der Praxis häufig verwendet.
  • Besonders beliebt sind Tees, die Fenchel enthalten, sowie probiotische Zubereitungen, die die Darmgesundheit positiv beeinflussen sollen.
  • Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA warnt in einer aktualisierten Stellungnahme aufgrund des Estragol-Gehalts vor Zubereitungen mit Fenchel für Säuglinge und Kinder.
  • Die Warnung ersteckt sich auch auf stillende Mütter, die ebenfalls häufig in Form von "Stilltee" Zubereitungen mit Fenchel zu sich nehmen.

Obwohl es für gestillte Säuglinge nicht notwendig und nicht empfohlen ist, Tees oder Nahrungsergänzungsmittel zusätzlich zum Stillen zu erhalten, werden in der Praxis immer wieder solche Produkte verwendet, um vermeintlichen "Koliken" oder Bauchbeschwerden entgegen zu wirken. Besonders beliebt sind Tee-Zubereitungen, die Fenchel enthalten, sowie Nahrungsergänzungsmittel, die mit Hilfe von Probiotika angeblich die Darmgesundheit des Säuglings fördern sollen.

Die Europäisches Arzneimittelbehörde EMA hat 2023 ihre Stellungnahme aus dem Jahr 2005 aktualisiert, in der sie vor dem Einsatz von Fenchel- und Anis-Produkten für Säuglinge und Kinder warnt. Beide Pflanzen enthalten Estragol, das krebserregend wirkt und teilweise in hohen Konzentrationen in diesen Pflanzen und Produkten daraus enthalten sein kann. Die Warnung erstreckt sich auch auf Schwangere und stillende Mütter.

Die → aktualisierte EMA-Stellungnahme hat für einige Aufmerksamkeit gesorgt, beispielhaft hier zwei Artikel dazu:
Monatszeitschrift Kinderheilkunde
Zeitschrift "Eltern"

Neben dem beliebten Fencheltee werden immer wieder auch Nahrungsergänzungsmittel beworben, die angeblich mit Hilfe von probiotischen Bakterienstämmen die Darmgesundheit von Säuglingen positiv beeinflussen sollen. Außerdem experimentiert die Säuglingsnahrungsindustrie seit einiger Zeit mit Prebiotika als Zusatz zur Säuglingsnahrung.

Grundsätzlich enthält Muttermilch eine Vielzahl von Oligosacchariden (Prebiotika), die individuell durch die Ernährung und Lebenssituation der Mutter beeinflusst werden. In der aktuellen Literatur werden über 200 Oligosaccharide beschrieben (Core Curriculum, 2024:145f; Walker, 2023:39ff). Im individuellen Zusammenspiel unterstützen diese das Wachstum von schützenden Bakterien (Probiotika, wie z.B. Lactobacillus bifidus) und beeinflussen so das Mikrobiom des kindlichen Darms.
Nicht wissenschaftlich belegt ist hingegen, dass einzelne Pre- oder Probiotika ebenfalls eine Wirkung entfalten, insbesondere wenn sie künstlich hergestellt und als Tropfen oder Zusätze in Säuglingsnahrung dem Baby verabreicht werden. Stillen bleibt somit die beste Maßnahme, um für einen gesunden Darm des Babys zu sorgen.

Bereits 2020 hat das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in einer aktualisierten Stellungnahme den Zusatz von Pre- und Probiotika in Säuglingsnahrung untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass es für keine dieser Anwendungen ausreichende wissenschaftliche Belege über eine positive Wirkung gibt.
Aktualisierte Stellungnahme zum gesundheitlichen Nutzen von Säuglingsanfangs- und Folgenahrung mit Zusatz von „Probiotika“, BfR 2020

Lesen Sie ergänzend auch unseren → Artikel zum DGKJ-Positionspapier "Zusatz synthetischer Oligosaccharide zu Säuglingsnahrungen und deren Bewerbung" vom September 2022

Hinweise für die Praxis

Als Stillberater:innen sind wir häufig mit jungen Eltern in Kontakt, die unsicher sind, weil ihr Kind "soviel schreit" oder "Bauchweh hat" und die sogenannten "3-Monats-Koliken" sind ein gängiger Begriff für alle, die in der Betreuung von Familien arbeiten.

Gleichzeitig beobachten wir, dass dieses Problem in einigen anderen Ländern eine deutlich kleinere Rolle spielt und in traditionellen Kulturen gar nicht vorzukommen scheint. Was bedeutet das für uns in der Praxis?

Bis heute halten sich hartnäckige Vorstellungen davon, wie ein Säugling sich verhalten sollte, die jedoch wenig mit der Realität und dem physiologischen Verhalten von Säuglingen zu tun haben. Eine ganze Reihe von "typischen" Schwierigkeiten, auf die junge Eltern stoßen, haben mit dieser Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zu tun:

• Es ist normal und physiologisch, dass Babys ein enormes Bedürfnis nach Körperkontakt haben. Wenn sie den größten Teil des Tages auf dem Körper einer Bezugsperson verbringen dürfen (z.B. auch mit Unterstützung durch eine Tragehilfe), sind sie nachweisbar weniger unruhig und weinen seltener. Es ist nicht notwendig, Babys "abzulegen" – die Sorge vor dem "Verwöhnen" des Babys ist unbegründet.

• Babys benötigen Nahrung zu unregelmäßigen Zeiten und in unregelmäßigen Mengen. Stillen nach Bedarf erfüllt dieses Bedürfnis: das Baby wird angelegt, sobald es Stillzeichen zeigt. Manchmal wird es ausgiebig und lange trinken, andere Male nur einen kleinen Schluck zum Einschlafen benötigen. Manchmal ist das Baby nach einer Brust satt und zufrieden, andere Male möchte es mehrmals hin- und herwechseln, bevor es entspannt einschläft.
Auch Babys, die nicht gestillt werden, sollten auf diese Weise gefüttert werden: nach Bedarf.

• Das Saugbedürfnis geht über das reine Bedürfnis nach Nahrung hinaus: Baby wenden sowohl nutritives als auch non-nutritives Saugen an der Brust im Wechsel an. Beide Komponenten sind wichtig und sollten nicht begrenzt werden. Stillen dient somit immer auch zur Beruhigung, tröstet, unterstützt beim Einschlafen, bietet Sicherheit und Nähe.
Nicht-gestillte Kinder benötigen neben der Flaschenfütterung einen Schnuller, um ihr Bedürfnis nach non-nutritivem Saugen befriedigen zu können. Intensiver und häufiger Körperkontakt ist für diese Babys ebenso wichtig wie für gestillte Kinder.

• Vor allem um die Zeit zwischen der 4. und 8. Lebenswoche sind viele Babys am Spätnachmittag und Abend unruhig und scheinbar nicht zufrieden zu stellen. Clusterfeeding in Kombination mit viel Körperkontakt und Tragen ist meist die beste Antwort darauf: das Baby stillt immer wieder in kurzen Abständen, schläft ein wenig, möchte erneut an die Brust... Dieses Verhalten ist physiologisch und klingt nach einiger Zeit wieder ab. Eltern, die darüber Bescheid wissen, können angemessen auf die Bedürfnisse ihres Babys reagieren.

• Insbesondere in den ersten Wochen wird beim Stillen der Darm des Babys aktiviert – die meisten Neugeborenen setzen kurz nach Beginn des Stillens Stuhl ab. Manchmal scheint dieser Prozess nicht ganz einfach zu verlaufen, das Baby windet sich, es wirkt unruhig oder angestrengt, man kann die Darmtätigkeit hören. Ruhe bewahren, immer wieder die Brust anbieten, sanftes Streicheln des Bauchs und viel Körperkontakt – mit diesen Maßnahmen ist diese Phase bald gut überwunden.

• Wenn ein Baby weint, häufig stillen möchte, sich nicht ablegen lässt, interpretieren manche Eltern dies als Zeichen für Bauchweh oder Koliken. Andere sorgen sich um "zu wenig Milch" und interpretieren das Verhalten des Babys als Zeichen für ein Stillproblem. Lesen Sie zu diesem Thema weiter auf unserer Fachseite → Zu wenig Milch

• Manche Babys sind trotz häufigem und uneingeschränktem Stillen und Tragen sehr unruhig, weinen extrem viel, sind nur schwer zu beruhigen. Für Eltern ist dies äußerst belastend und es braucht Geduld und Verständnis, junge Familien in einer solchen Situation zu begleiten. Weder "Mittelchen gegen Bauchweh" noch Einschränkungen des Stillens oder der Fütterung sind hier hilfreich – neben einer gründlichen Suche nach möglichen körperlichen Ursachen (Schmerzen) stehen eine empathische Begleitung und Stärkung der Bindung zwischen Eltern und Kind im Vordergrund. Ausgebildete Berater:innen und Therapeut:innen aus dem Bereich der bindungsorientierten Eltern-Begleitung können hier eine gute Anlaufstelle sein.

© Januar 2024, Anja Bier, IBCLC
und das EISL-Newsletter-Team:
Rhiannon Grill, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Simone Lehwald, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC;
Gudrun von der Ohe, IBCLC

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