Stillen in der Öffentlichkeit: Aktuelle Debatte in Deutschland
Anlage zum Newsletter Februar 2016
Die individuelle Entscheidung, ihr Kind zu stillen oder nicht, ist keineswegs immer nur die Privatangelegenheit einer jungen Mutter. Immer schwingen auch politische und soziologische Fragestellungen mit und das Stillen wird im gesellschaftlichen Kontext leider häufig kontrovers diskutiert. Obwohl die gesundheitlichen Auswirkungen und die Bedeutung für die Bindung zwischen Mutter und Kind unbestritten und längst bekannt sind, gibt es immer wieder aufflammende Diskussionen, beispielsweise um die Frage, ob es womöglich einen regelrechten „Zwang“ zum Stillen gibt, inwieweit das Stillen sich mit feministischen Positionen vereinbaren lässt und ob sogenanntes „Langzeitstillen“ schädlich ist oder nicht. In den vergangenen Jahren wurde dazu viel veröffentlicht.
Nun ist eine neue Debatte entbrannt: Wie halten wir es mit dem Stillen in der Öffentlichkeit? Bislang ist im deutschsprachigen Raum das öffentliche Stillen meist kein großes Thema und wird, anders als im prüden Amerika, hierzulande auch recht unverkrampft praktiziert. Es ist jedoch bisher in Deutschland auch nicht ausdrücklich durch das Gesetz geschützt, was von einigen kritisiert wird. Die deutsche Nationale Stillkommission beispielsweise spricht sich dafür aus, ein Gesetz zum Schutz des Stillens in der Öffentlichkeit auf den Weg zu bringen, wie es in anderen Ländern teilweise bereits existiert.
Befeuert wird die Debatte nun durch einen aktuellen Vorfall, bei dem eine junge Mutter in einem Berliner Café ihr Kind nicht in der Weise stillen durfte, wie sie es wollte und die daraufhin zunächst bei Facebook davon berichtet hatte. Nachdem sie viel Zuspruch erfuhr und sich Gleichgesinnte empörten, erstellte sie eine Online-Petition, die ein solches Gesetz erreichen soll. Die Petition erfährt großen Zuspruch und dadurch sind auch die Medien auf den Fall aufmerksam geworden, beispielsweise berichteten die → Süddeutsche Zeitung, der → Stern, der → Tagesspiegel, die → Welt und der → MDR über das Thema, ebenso wie etliche Lokalzeitungen und die BILD.
Es bleibt abzuwarten, ob die Petition, die sich an Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig richtet, tatsächlich politische Konsequenzen nach sich zieht. Aus unserer Sicht zeigt die Tatsache, dass es noch immer von manchen Menschen als anstößig empfunden wird, sein Kind ganz natürlich zu ernähren (wohingegen Niemand sich daran stört, wenn eine Mutter in der Öffentlichkeit ihrem Kind die Flasche gibt), wie sehr in unseren Köpfen und in der öffentlichen Wahrnehmung sich die Flasche als Norm etabliert hat. Sowohl gesundheitspolitisch als auch sozialökonomisch wäre es jedoch dringend angezeigt, diesen Trend umzukehren und junge Frauen aktiv darin zu unterstützen, wenn sie ihr Kind stillen wollen. Dass das in Deutschland auch im 21. Jahrhundert noch immer umstritten ist und Rechtfertigung braucht, ist ein Armutszeugnis.
© Februar 2016, Anja Bier (IBCLC) für den Newsletter des Europäischen Instituts für Stillen und Laktation