Stillen fördern

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Letzte Aktualisierung dieser Seite: 2/2024
Die wichtigste Aufgabe in der Stillberatung liegt darin, Mütter auf ihrem individuellen Weg zu begleiten und eine innige und sichere Bindung zwischen Mutter und Kind zu fördern. Unserem Handeln in den ersten Stunden unmittelbar nach der Geburt kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da wir hier entscheidend zum Bindungsaufbau und einem gelingenden Stillstart beitragen.
Bonding im psychologischen Sinne, als die wachsende innige emotionale Bindung von Mutter und Kind, findet bereits in der Schwangerschaft und nach der Geburt auch weit über die ersten Stunden hinausgehend statt. Nach einer intensiven Phase des Kennenlernens über die ersten Wochen, die von ausgedehntem Blick- und Körperkontakt, zärtlichen Berührungen und aufmerksamer Kommunikation geprägt sind, entwickelt sich nach und nach eine stabile Bindung, die auch durch Krisen trägt und Mutter und Kind lebenslang miteinander verbindet.
Mutter und Kind treten unmittelbar nach der Geburt in einen natürlichen Dialog ein, der die Oxytocin-Ausschüttung stimuliert und somit den Bindungsaufbau fördert. Dies geschieht z.B. über folgende Prozesse:
Schwangerschaft, Geburt und Stillen stellen aus biologischer Sicht eine natürliche Einheit dar, die ab dem Moment der Entstehung des Embryos das sichere Gedeihen und Aufwachsen dieses Kindes zum Ziel hat. Es ist daher nicht erstaunlich, dass einige zentrale Hormone gleich mehrere miteinander verknüpfte Funktionen innerhalb dieses Prozesses übernehmen. Eine besonders herausragende Rolle nimmt dabei das Oxytocin ein.
Es wird im Körper der werdenden Mutter in Schüben/Wellen ausgeschüttet, wenn die Geburt beginnt. Es verursacht die Wehen und steigt unter der Geburt so stark an, dass der Oxytocinspiegel im Körper einer Frau zu keinem Zeitpunkt höher liegt, als unmittelbar postpartal.
Neben den erforderlichen Nachwehen, um die Plazenta auszustoßen und um die Gebärmutter-Rückbildung zu fördern, übenimmt Oxytocin ab der Geburt noch weitere Aufgaben: es ist auf physischer Ebene für den Milchspende-Reflex zuständig, der künftig die Ernährung des Säuglings sicherstellt, ist aber auch auf psychischer Ebene als Neurotransmitter von entscheidender Bedeutung beim Bindungsaufbau, indem es intensive Glücks- und Liebesgefühle auslöst.
Wichtig zu wissen: nur körpereigenes, von der Mutter selbst ausgeschüttetes Oxytocin kann die oben genannten psychischen Prozesse auslösen. Künstlich zugeführtes Oxytocin ist hingegen mit Risiken für die Mutter-Kind-Interaktion verknüpft und der Einsatz sollte stets sehr kritisch hinterfragt werden. Lesen Sie dazu auch unseren → Artikel aus 4/2018, der diese Thematik aufgreift.
Im Folgenden verwenden wir den Begriff "Bonding-Phase" oder kurz "Bonding" wie es im peripartalen Sprachgebrauch üblich ist: er steht vereinfachend als Synonym für intensiven, ununterbrochenen Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt.
Sobald das Baby geboren ist, wird es unverzüglich im direkten Hautkontakt auf dem Bauch der Mutter platziert. Es wird mit trockenen warmen Tüchern zugedeckt und alle notwendigen Untersuchungen und Routine-Maßnahmen werden entweder direkt auf dem Körper der Mutter vorgenommen oder auf die Zeit nach der Bonding-Phase verschoben. Das Baby wird nicht gewaschen, angezogen oder eingewickelt.
Diese Phase des Hautkontakts wird über einen Zeitraum von mindestens einer Stunde oder bis zum ersten Stillen aufrecht erhalten und nur unterbrochen, wenn zwingende medizinische Gründe eine Trennung notwendig machen.
Die Auswirkungen dieses Vorgehens sind wissenschaftlich gut untersucht und werden auch in neueren Studien immer wieder bestätigt:
Die Bedeutung des ungestörten Bondings auf den erfolgreichen Stillbeginn ist besonders deutlich. Lesen Sie dazu auch unsere folgenden Artikel:
Auch wenn die Geburt per Sectio erfolgte und/oder das Kind zu früh geboren ist, ist es möglich, Mutter und Kind in intensiven und ausgedehnten Hautkontakt zu bringen. Lesen Sie dazu unseren wichtigen Artikel → Die Bedeutung des direkten Hautkontakts für ALLE Neugeborenen
Wenn der Hautkontakt unterbrochen wird (auch nur für "ganz kurz"), hat dies messbare Auswirkungen:
Alle diese Faktoren haben nicht nur Auswirkungen auf Mutter und Kind, sondern bedeuten in Folge einen erhöhten Arbeitsaufwand für das Klinikpersonal, nicht nur unmittelbar im Kreißsaal, sondern auch in den folgenden Tagen.
Ein gelingender Stillstart bedeutet:
Eine Veränderung der Strukturen und Routinen bedeutet eine Herausforderung für jedes Team. Gleichzeitig ist die Evidenzlage für dieses Vorgehen so klar und die Bedeutung des ununterbrochenen Hautkontakts so zentral, dass in jedem Haus interdisziplinäre Strategien entwickelt werden sollten, um die Umsetzung zu ermöglichen.
Der ununterbrochene Hautkontakt und eine möglichst interventionsarme Geburt gewährleistet, dass ein biologisch vorgesehener Prozess in Gang kommt, durch den das Neugeborene schließlich von selbst an die Brust findet und erstmals Kolostrum trinkt.
Das Neugeborene ist mit verschiedenen Reflexen ausgestattet, die es ihm ermöglichen, selbständig auf dem Bauch/ Brustbereich der Mutter die Brust zu finden (durch riechen, sehen und ertasten), sich dorthin zu orientieren und seine Position zu verändern (durch robben, krabbeln, sich abstoßen) und sich schließlich an der Brust anzudocken (Suchbewegungen, Mundöffnung, Saugschluss). Dieser Prozess findet typischerweise in 9 Stadien/ Schritten statt und wird im englischen oft als "Self-Attachment" oder auch "Breast-Crawl" bezeichnet.
Die 9 Stadien nach Widström umfassen:
Die folgenden frei verfügbaren Videos verdeutlichen den Prozess und zeigen die verschiedenen Stadien:
→ Global Health Media Project: Early Initiation of Breastfeeding (Englisch, für Fachkräfte)
→ Global Health Media Project: Stillen in den ersten Stunden nach der Geburt (Deutsch, für Mütter)
→ Jennifer Pitkin: Breastcrawl
Dieser natürliche Prozess ist ausführlich wissenschaftlich untersucht und beschrieben worden. Eine aktuelle, umfassende und vollständig frei zugängliche Publikation dazu finden Sie hier:
→ Skin‐to‐skin contact the first hour after birth, underlying implications and clinical practice (Widström et al., 2019)
Die Erkenntnisse zur Bedeutung des ungestörten Bondings und der daraus resultierenden Erleichterung für den Stillbeginn haben sich bereits in einer Reihe von Empfehlungen und Leitlinien niedergeschlagen:
Wenn Bonding und Self-Attachment abgeschlossen sind, werden Mutter und Kind optimalerweise im direkten Hautkontakt belassen und gemeinsam auf die Wochenstation verlegt. Dort kann der Hautkontakt weiterhin über lange Perioden aufrecht erhalten und/oder jederzeit nach Unterbrechungen wieder hergestellt werden. Dies ist besonders sinnvoll bei auftretenden Stillproblemen und bei sogenannten Late-Preterm- oder Nearly-Term-Neugeborenen, die häufig sehr schläfrig sind und vom intensiven Hautkontakt besonders profitieren.
Als Stillposition für die gesamten ersten Tage und Wochen ist die zurückgelehnte Position, in der das Kind durch die Schwerkraft unterstützt auf dem Körper der Mutter ruht und selbst aktiv zur Brust findet, die natürliche und logische Fortsetzung der Bondingphase in den ersten Stunden. Dies wird im Englischen als "Biological Nurturing" oder "Laid-back Breastfeeding" bezeichnet, im Deutschen verwenden wir den Begriff Intuitives Stillen.
Weitere Informationen zum Anlegen und Positionieren, erhalten Sie auf unserer Fachseite:
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